Marion Fritzsche, geb. Meske
| Austausch zwischen dem Kinderheim in der Königsheide und der Kinderstadt Fôt 1968
„Ich hätte nie gedacht, dass ich da mitfahren darf“
Marion, eine der Glücklichen
Die achtjährige Marion kam 1961 in die Königsheide. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie mit ihrer Mutter im Heim „für gefallene Mädchen“ der Heilsarmee. Daher war sie beim Einzug in das Kinderheim in der Königsheide bereits mit dem Heimleben vertraut, sodass ihr die Integration leichtfiel. Sie ahnte allerdings noch nicht, dass sie erst acht Jahre später, 1969, als Jugendliche das Kinderheim wieder verlassen wird. Damals rechnete sie noch fest damit, nach der Geburt ihres vierten Bruders wieder nach Hause zu können. Sie ist das Einzige ihrer Geschwister, die ins Heim kam. Ihre Weichen wurden dort neu gestellt. Sie resümiert:
„Das Heim hat mir gutgetan. Die haben bemerkt, dass ich begabt bin. Die haben mich schulisch gefördert. Die haben mir die Möglichkeit gegeben, Abitur zu machen. Dagegen meine vier Brüder sind alle nach der 8. Klasse aus der Schule raus und haben irgendeinen Beruf gelernt, den sie nicht wollten, und ich hatte mit meinem Abitur die Chance, Lehrer zu werden. Insofern sehe ich die Sache positiv. Es gab genug Sachen, die nicht so gut waren, aber…“
Marion ist strebsam – nicht erst seit der Königsheide. Das brachte ihr die Außenseiterrolle ein. Sie gehörte zu den jüngeren Schüler und doch wusste sie auf alles eine Antwort. Das führt dazu, dass sie sogar eine Zeit lang gemobbt wurde. Das tat ihrem Wissenseifer allerdings keinen Abbruch. Über Hanna Riese, die Frau des Direktors, sagt sie: „Sie war meine Freundin“. Hanna Riese leitete nämlich die Bibliothek. Diese lag günstigerweise in Haus IV, das Marion bewohnte. Nachdem Marion bewies, dass sie das geliehene Buch tatsächlich so schnell gelesen hatte, durfte sie selbst die dicksten Bücher ausleihen.
Ab der 5. Klasse erhielt Marion eine Pflegefamilie. Dort lernte die 10-jährige „Familie“ kennen. Das hat Marion, die ein richtiger „Familienmensch“ ist, geprägt. Die Familie wohnte am Baumschulenweg und war so fußläufig erreichbar. Die Pflegemutter, eine Regisseurin für Kinderhörbücher, ist, als sie Marion aufnimmt, der Meinung, „dass Heimkinder sich nicht in irgendeine Familie einfügen können.“ Marions Hausleiterin wollte sie vom Gegenteil überzeugen. Marion wurde gut aufgenommen. Aus den vier Jahren, in denen sie die Familie besuchte, nahm sie viel mit.
In die Zeit der 8. Klasse fallen zwei der schönsten Erlebnisse: zum einen die Jugendweihe, zum anderen ein gemeinsames Aufbegehren gegen Regeln. Die Jugendweihe bereitete Jugendliche in der DDR auf das Erwachsenwerden vor. Der Tag der Jugendweihe sollte ein unvergessliches Erlebnis werden.
„Vier Mann saßen jeweils an einen Tisch und für jeden Tisch gab es eine Flasche Wein. Das erste Mal in unserem Leben Alkohol trinken – haben die Erzieher gedacht, dass es das erste Mal war. Das war wirklich ein Höhepunkt und dann sind wir mit der Straßenbahn wieder leicht angetrunken nach Hause gefahren.“
Wie diese Erinnerung zeigt, brach die sonst sehr vorbildliche Marion gelegentlich auch mal Regeln. Nicht unbemerkt bleib das gemeinsame Ausbüchsen ihrer gesamten Gruppe. Es zählt zu ihren schönsten Erlebnissen. Die Betreuerinnen zogen sich am liebsten in einen Personalraum zurück. Damit waren die Mädchen sich meist selbst überlassen. Das war insbesondere am Wochenende langweilig. So beschloss die Gruppe aus 20 Mädchen zum Alexanderplatz zu fahren, um sich dort zu amüsieren. Die Löcher im Holzzaun, wo sie unberechtigter Weise das Gelände verlassen konnten, war allen bekannt. Als die Mädchen aufgrund der Kälte abends ins Heim zurückkehrten, standen bereits zwei Streifenwagen an der Südostalle vor dem Kinderheim. Doch auf die Frage „Was habt ihr euch dabei gedacht?“ lachten sie zum Missfallen der Erzieherinnen nur. Eine Strafe gab es nicht. Allerdings wurden nach dem Ausbruch Gruppenpläne mit Angeboten wie Kinobesuchen und Vorträgen eingeführt.
Zahlreiche Anekdoten Marions belegen eine Mischung aus gelungener Anpassung ans System, um die eigenen Ziele zu erreichen, Dinge zu machen, die anderen verwehrt blieb z. B. das Abitur oder spätere Reisen nach Paris und Aufmüpfigkeit, die aufgrund einer gewissen Geschicklichkeit, teils Zufall, teils Glück ohne Folgen blieb.
In den Ferien verreisen, war ein fester Bestandteil in der Königsheide. Jeden Sommer tauschten Kinder der Königsheide für zwei Wochen ihr Heim gegen ein anderes ein. Mal ging es ins Joachimsthal, mal ins Erzgebirge und wieder ein anderes Mal in den Thüringer Wald. Eine Fahrt wie die nach Ungarn war allerdings selten. Sie fand nur alle zwei Jahre statt und galt als besondere Auszeichnung. Umso überraschter war die damals 15-Jährige als sie nach der 9. Klasse mitfahren durfte:
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mitfahren darf.“
Doch wie war es nun in Ungarn? Dazu steht Marion Fritzsche im unten verlinkten Video Rede und Antwort. Wer möchte, kann dabei die ersten Brocken Ungarisch lernen.
(zur Langversion des Textes, siehe weiter unten)
Langversion des Begleittextes:
Das Zeitzeug:inneninterview wurde realisiert von den Studentinnen
Christin Schwabe
Anna Zelger
Marthe Kuester
Cathleen Maria Pagel